Cover
Titel
Atomfieber. Eine Geschichte der Atomenergie in der Schweiz


Autor(en)
Fischer, Michael
Erschienen
Zürich 2019: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Preis
€ 44.00 / CHF 44.00
von
Monika Gisler, ETH Zürich

Eine Geschichte des Verhältnisses der Schweiz zur Kerntechnologie war längst überfällig. Michael Fischer legt nun mit seinem Buch «Atomfieber» eine solche vor. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine grundlegende Aufarbeitung der Jahre seit 1945, vielmehr stützt sich der Autor auf wissenschaftliche Studien, die zum Teil schon länger zurückliegen, auf journalistische Arbeiten (vor allem für die jüngere Geschichte) sowie vereinzelt auf (bekannte) Archivalien. Dies ist insofern zu bedauern, als seine Studie damit kaum neue Aussagen und Erkenntnisse hervorbringt. Wer also gehofft hat, endlich Klärung zu einigen der dringendsten Fragen zu erhalten – etwa dazu, wie weit die Schweiz in der Herstellung von Kernwaffen gegangen ist – wird enttäuscht sein. Wer jedoch eine Übersicht über die wichtigsten Momente der Schweizer Atomgeschichte nach 1945 sucht, ist mit diesem Buch gut bedient. Als Einführung ins Thema funktioniert es auf jeden Fall – meine Studierenden zumindest haben das Buch mit Genuss gelesen.

Fischer beginnt seine Darstellung mit dem Atomwaffenprogramm der Schweizer Armee nach 1945, skizziert anschliessend die Anstrengungen der Schweizer Atomindustrie nach 1955, einen eigenen Reaktor zu entwickeln («Lucens»), thematisiert die Widerstandsbewegung gegen Atomkraft sowie die beiden grössten Unfälle in der Geschichte der Kerntechnologie, Tschernobyl und Fukushima. Er legt dabei die Reaktionen und Konsequenzen in der Schweiz ausführlich dar und beschäftigt sich schliesslich mit der dringenden, bis heute ungelösten Frage der Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Die Kapitel werden ergänzt mit Bruchstücken zum Thema aus Literatur und Kunst, etwa den Schriften Dürrenmatts und Frischs. Das Buch schliesst mit einer Auswahl von Bilddokumenten. Warum diese nicht als Quellen in die Darstellung eingeflossen sind, bleibt allerdings unklar.

Seinen Ausgangspunkt nimmt das Buch bei den Abwürfen der beiden Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki, die ein neues Zeitalter dieser auf diskursiver und effektiver Ebene wirkmächtigen Technologie einläuteten – auch in der Schweiz. Hier wurden rasch Anstrengungen unternommen, Anschluss an diese neuen Entwicklungen in der Atomtechnologie zu finden: Einerseits regte das Eidgenössische Militärdepartement noch 1945 die Gründung einer Studienkommission für Atomenergie an. Diese sollte sich mit dem Thema sowohl in ziviler als auch in militärischer Hinsicht beschäftigen, letzteres auf der Grundlage geheimer Richtlinien. Industrielle andererseits erörterten die Möglichkeiten, die die Technologie für die Privatwirtschaft bieten würde, von der zivilen Nutzung für eine ganze Reihe neuer Folgetechnologien bis hin zur militärischen Verwendung. Die Schweiz – vor dem Zweiten Weltkrieg mit an der Spitze in der Nukleartechnologieforschung – brachte sich damit unmittelbar nach dem Krieg in Stellung für eine starke Positionierung im Bereich der Kerntechnologie im Zeitalter des Kalten Kriegs. Warum sie diese in den folgenden Jahren verlor, bleibt in dieser Studie bedauerlicherweise unterbelichtet.

Zivile und militärische Interessen an der Atomenergie waren in den ersten Jahren des Kalten Kriegs eng miteinander verzahnt. Spätestens in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre jedoch wurden sie entkoppelt, unter anderem mit der 1957 gegründeten Studienkommission für die allfällige Beschaffung eigener Atomwaffen. Gleiches gilt notabene für die USA, die ab Mitte der 1950er-Jahre die zivile von der militärischen Nutzung der Nukleartechnik trennte.

Gerade in der Beschreibung dieser frühen dual use-Option fällt jedoch auf, dass es dem Autor aus welchen Gründen auch immer nicht gelingt, das Verhältnis von militärischen und zivilen Interessen verschiedener Akteursgruppen zu klären: In der Bewerbung seines Buches im Januar dieses Jahres hat Fischer noch die These vertreten, die Forschungen im Bereich der Atomphysik seien damals zivil getarnt gewesen, hätten aber hauptsächlich einen militärischen Zweck verfolgt. Der geplante Schwerwasserreaktor in Lucens hätte also auch für die Produktion von Plutonium und damit für die Herstellung von Atomwaffen genutzt werden sollen. Im Buch selbst hingegen verteidigt er diese Position nicht und bleibt insgesamt vage. Und tatsächlich lassen sich auf der Grundlage der bekannten Quellen diesbezüglich keine abschliessenden Aussagen machen.

Die Kapitel zur gescheiterten Entwicklung eines Schweizer Reaktors und der teilweise erfolgreiche Widerstand gegen Atomkraftwerke sind in der Sache bekannt. Die darauf folgenden Abschnitte behandeln dann die bedeutendsten Unfälle der Geschichte der Atomtechnologie, Tschernobyl und Fukushima. Diese haben in der Schweiz eine Reihe politischer Reaktionen ausgelöst, die bis heute anhalten. Nach Tschernobyl etwa fanden intensive Analysen und Sicherheitsprüfungen in allen AKWs statt und die Stimmberechtigten nahmen – nach zahlreichen Ablehnungen verschiedener Anträge zum Thema – die 1990 bis 2000 wirksame Moratoriumsinitiative an. Bei der Lektüre wird deutlich, dass bereits hier das Ende des Atomzeitalters in der Schweiz eingeläutet wurde, das nach der Fukushima-Katastrophe mit dem bundesrätlichen Entscheid des Ausstiegs aus der Kernkraft fortgeführt und von den Stimmberechtigten bestätigt wurde.

Im Kapitel zur Entsorgung des radioaktiven Abfalls bietet Michael Fischer eine gründliche Zusammenschau der wichtigsten Diskussionen zum Thema. Die Schwierigkeiten des Sachverhalts werden daraus mehr als deutlich – und lassen einen als Leserin angesichts der Komplexität der Aufgabe ratlos. Die Sympathie des Autors gehört durch das ganze Buch hindurch denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die sich gegen die Nutzung der Kernenergie gestellt haben. In diesem Kapitel wird deutlich, wieso.

Zwei kurze Schlussbemerkungen: Zuweilen stört die Verwendung ungenauer Begriffe. Von einer «Atombombe» zu reden und Atomwaffen zu meinen, erzeugt den Anschein, der guten Story zuliebe müsste übertrieben werden. Und was genau ist ein «Super-Gau»? Kann ein «grösster anzunehmender Unfall» auch noch «super» sein? Als Rezensentin fragt man sich bei der Lektüre zuweilen, wo die Geschichtsschreibung aufhört und die Vermarktung beginnt.

Zitierweise:
Monika Gisler: Michael Fischer: Atomfieber. Eine Geschichte der Atomenergie in der Schweiz, Baden: Hier + Jetzt, 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 483-485.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 483-485.

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